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THEMA: Liebe in Zeiten der Seelendämmerung

Liebe in Zeiten der Seelendämmerung 11 Jahre 6 Monate her #30

: Hier nun ein Auszug aus meinem neuen Buch AN- Liebe in Zeiten der Seelendämmerung..viel Spass beim Lesen ..

Ynys Witrin

Der mächtige Zauber der Schwesternschaft hatte Elara‘ s Körper verwandelt.
Wie ein Bächlein, das vom Wind erhoben wird und auf der anderen Seite des Berges wieder Form annimmt, seiner Umgebung gemäss, hatte sich Elara‘s Körper im Wasser aufgelöst. Doch blieb die einzigartige Zusammensetzung der Seele erhalten im Gedächtnis des Wassers und der eine Geist, der alle Wasser verband, hatte die Seele nach Ynys Witrin getragen. Genauer gesagt an das Ufer des Sees, der die Insel der Schwesternschaft vom Festland trennte. Ganz behutsam spülte der Geist des Wassers das Seelengewebe an Land und augenblicklich nahm es Gestalt an. Elara existierte nur mehr als eine Version dieser Seele in Zeit und Raum im Gedächtnis der Frau, die hier ihre Augen öffnete. Ein Traum von vielen Träumen, aus dem sie gerade erwacht war. Ruhig beobachtete sie die Oberfläche des Sees. Sie liebte es, wie die Strahlen der Sonne die tanzenden Lichter auf das Wasser zauberten. Sie liebte die Vielzahl der Geräusche der sie umgebenden üppigen Natur. Sie liebte die Schreie und das Singen
der Vögel, die sie verstand. Alles hier schien sie willkommen zu heißen.
Sie sah sie am Ufer stehen, die lange vermissten Schwestern und sie hatte das Gefühl nach einer langen Reise wieder nach Hause gekommen oder nach einem langen Traum erwacht zu sein. Das Boot stand bereit, und mühelos glitt ihr Körper ins Boot und im selben Augenblick spürte sie die Macht, die durch ihre Adern floss. Firrin stand neben ihr und hob ehrfurchtsvoll die Hände, angesichts der reinen Magie, die von der Insel ausging. Sein Äußeres war unverändert und seine Erinnerung vollkommen gewahrt. Die Frau hob ebenfalls die Hände und schien die Luft auseinander zu ziehen, wie einen Schleier, auf
dass das Fenster sich öffne. Ihr Blick hatte den Schleier durchdrungen, doch war es dem Körper nur möglich, den Schleier im Boot zu durchqueren, wenn die Geste des Teilens des Raumes von einer der Eingeweihten vollzogen wurde. Geräuschlos glitt die Barke durch das Wasser der Seelen, begleitet von Wesenheiten, die so alt waren, wie die Erde selbst. Sie waren die Hüter dieses Heiligtums und manchmal erschienen sie jenen als Nebel, denen der Anblick der Insel nicht gewährt war. Es bedurfte eines vollkommen reinen Herzens, den See zu überqueren und in den Raum der Insel einzutreten. Von weitem hörten sie schon den Gesang der Schwestern.



„ Von weit kommst du her
Und weit wirst du ziehen
Der Zeit wirst du
im Körper entfliehen-
Erwachen wirst du
im bleibenden Raum
die Fesseln sich lösen
vom trennenden Traum.
Den Namen erinnern,
der dir gegeben,
der du auch bist
im ew’gen Leben.
Dein Zeichen ist nun
in liebend Hand
Es mag dienen dem Ritter
als magisch Pfand,
das Einlass gewährt
ihm in heiliges Land
Lilian, Schwester
nichts ist zu tun,
lass deine Seele
ein wenig ruhn
bald wird es Abend
Abend und Nacht
und Sehnen im Herzen
aufs neue erwacht.
Vergessnes gefunden
durch Liebe verbunden.
Das Ende am Anfang,
so mach dich bereit,
die Siegel zu lösen,
der Raum und der Zeit."



Der Gesang verflüchtigte sich ebenso wie die Gestalten der Schwestern. Als Lilian das Ufer der Insel erreichte, stand dort ein Korb voller Früchte und sie war, mit Firrin, allein. Sie hatte ihn mitgenommen, weil ihre Seele fühlte, dass Firrin um Dinge wusste, die wichtig waren, wichtig für sie, sich zu erinnern. Sie würde den Schwestern begegnen, dann, wenn die Zeit reif war. Jetzt aber folgte sie dem sanft gewundenen Pfad, der sie über eine leichte Anhöhe zu ihrem Häuschen führte, das mitten im Wald auf einer Lichtung stand. Im Häuschen war das Feuer entzündet, das sie im Herzen, mit der Göttin verband. Bläulich-weiß war das Licht dieser Flamme und die unbewegte Stille dieses Lichts schenkte ihr jene Geborgenheit, nach der sie sich manchmal sehnte. Sie fühlte sich müde und nachdem sie Firrin ein Ruhelager in einer der strohgedeckten Hütten, die in der Nähe des Häuschens im Wald standen, bereitet hatte, zog sie sich zurück. Sie sehnte sich nach Ruhe und legte sich auf ein Fell, das vor der Feuerstelle den lehmigen Boden bedeckte. Sie starrte ins Feuer und grüßte das ihr vertraute Gesicht, das mitten in den Flammen stand. Es war das Gesicht der Göttin und lächelnd erkannten sich ihre Augen in denen der Göttin.
Wenn auch das Gesicht sich wandelte, mal alt, mal jung, mal zeitlos erschien, war es doch immer dasselbe und es war nur eine Frage der Zeit, bis es aus den Flammen verschwand und aus ihrem Inneren wirkte. Je nachdem mit welchem Ausdruck der Göttin sie sich zu vereinigen wünschte, nahm ihr Körper das Alter an, das ihrem inneren Zustand entsprach. Heute wählte sie die alte Frau, die Weise. Sie war der Gezeiten müde und sie suchte die Stille des Alters, das die Zyklen des Mondes im Körper beendet hatte. So verband sie sich mit der Alten und sogleich nahm ihr Körper die Gestalt einer alten Frau an. Langes weißes Haar umrahmte jetzt ihr Gesicht und sie sah an den Flecken der Haut an den Händen, wie müde sie tatsächlich war. Erschöpft von endloser Reise wünschte sie sich einen traumlosen Schlaf.
Die Sonne stand schon hoch über dem See, als sie am nächsten Morgen erwachte.
Ihr erster Weg führte sie zu den Schwestern, die sich bei ihrer Ankunft verneigten. Sie hatten sich an Lilians Verwandlungen gewöhnt und erkannten sie in jedem ihrer Gesichter. „Seid gegrüßt, Schwestern meiner Seele“ - „Seid gegrüßt Herrin“ -
Eine Unmutsfalte erschien auf ihrer Stirn.„Ich mag es nicht, wenn ihr mich so nennt, ich habe es oft und oft gesagt.“
Lilians Stimme bekam eine Schärfe, die man in diesem gütigen Gesicht kaum vermuten konnte. „Es ist an der Zeit, den dir gemäßen Platz einzunehmen“, sagte eine der Schwestern. „ Wie kann ich den mir gemäßen Platz einnehmen?“ fragte Lilian. Ich weiß nicht, woher ich komme, ich bin nirgendwo zu Hause. Mein Leben scheint mir ein Traum zu sein. In wie vielen Räumen bewege ich mich, in wie vielen Gesichtern? Ich wandere durch Welten und Räume, habe unzählige Namen. Meine Geschichten könnten Bücher füllen und doch weiß ich nichts über meine Herkunft.
Oft habe ich das Gefühl mich selbst von aussen zu betrachten, wie ein Wesen, das ich ansehe. Doch fühle ich nicht von innen. Es ist als ob ein unsäglicher Schmerz mich vom direkten Erleben getrennt hätte. Alles in mir, das mir wirklich scheint, ist dieses Sehnen, das immer wieder mein Herz berührt. Da ist ein Wissen in mir , ich fühle, dass es da ist , doch ist mir das Wissen selbst nicht zugänglich. Es ist wie etwas, das tief in meinem Seelenkern eingeschlossen ist, wie ein verstaubtes Schatzkästchen, dessen Schlüssel ich nicht finde. Ich fühle Leben darin, unermessliche Liebe, doch ist es mir im Erleben nicht zugänglich. Ich wünsche mir den einen Raum, in dem ich eins bin, all das in mir vereine, was ich an Geschichten erfuhr. Ein Wesen, das sich selbst in unendlichen Versionen erkennt und empfindet. Ich wünsche mir die wahre Gestalt , die eine Gestalt, die all die anderen umschliesst und ebenso wünsche ich mir den einen Raum zu erfahren im Erleben, der alle anderen liebevoll birgt. Ich suche den Raum, den bleibenden Traum.“




Der Gesang der Schwestern
„Wandern wirst du durch die Räume.
Heller und dunkler mögen sie dir scheinen,
größer und kleiner,
bis du den Raum gefunden hast,
der deinem Wesen entspricht.
Doch auch dieser Raum wird sich weiten und engen,
wird dir als Palast erscheinen und als Gefängnis.
Frei wie ein Vogel wirst du fliegen,
über Räume und Raummaße hinweg.
Die Sonne spiegelt sich in allen Räumen
und Spiegel und Spiegelbild sind eins.
Dein Bewusstsein und deine Einstellung
entscheiden über Aufenthaltsort und Befindlichkeit.
Die Räume sind miteinander verwoben,
durch keinerlei Türen getrennt.
Du und die Sonne sind eins,
so auch ihrer Strahlen viele sind.
Durchdringst du den Spiegel, einst du den Raum,
räumst du die Zeit und erwachst im Traum.
Vergisst du die Zeit, gewinnst du an Raum.
Du wirst der Bewohner des Tempels sein,
sein Hausherr und Gast zugleich.
Im Werden sind die Räume, der Tempel aber ist.
Du bist und wirst
und die Räume entstehen durch dein Werden
und doch ist die Idee der Räume im Tempel enthalten.
Du kannst die Räume bewohnen,
ohne um den Tempel zu wissen.
Ein Raum kann dir erscheinen wie das Ganze.
Die Sonne spiegelt sich in allen Räumen.
Der Wohnungen im Hause des Vaters sind viele,
der Tempel aber ist unteilbar. "




Lilian war all dieser Sprüche müde. Sie hatte das Gefühl, dass ihre ganzen Erfahrungen ein einziges Rätselspiel waren, deren Lösungen andere zu kennen schienen, nur sie nicht. Sie wandte sich von den Schwestern ab. Noch war sie nicht bereit in das Spiegelbecken zu sehen, in das sich die weiße Quelle ergoss. Sie wollte die rote Quelle aufsuchen, deren Wasser sie immer mit Kraft füllte und unter der Eibe sitzen, die ihr Schatten und Geborgenheit spendete. Mit der Göttin selbst wollte sie reden, deren Stimme sie durchdrang sobald sie an der roten Quelle des Kelches saß. Sie lag unter einem Hügel, der Kelchshügel genannt wurde, weil sich in seinem Inneren ein Brunnen befand, der den heiligen Kelch beherbergte. Zu speziellen Zeiten holten ihn die Schwestern hervor, füllten ihn mit dem vereinigten Wassern der roten und weißen Quelle und hielten den Kelch so, dass das Licht des vollen Mondes das Wasser berührte. Dieses vom Mond geweihte Wasser tranken sie, um sich mehr noch mit der Göttin zu verbinden und so mit ihrer eigenen Weiblichkeit.
Lilian näherte sich dem Brunnen und setzte sich an den Rand. Das Wasser im Brunnen war mit Laub bedeckt, das sie sorg-sam entfernte. In den nun klaren Spiegel des Wassers blickend erschrak sie ob ihres eigenen Gesichtes.
Sie hatte nicht daran gedacht, dass sie die Gestalt der Alten angenommen hatte und sehnte sich plötzlich danach jung zu sein, jung und schön. Doch war sie im Inneren zu müde um die Wandlung zu vollziehen. Was nur war im letzten Traum geschehen, das sie so erschöpft hatte? Sie erinnerte sich kaum. Sie wusste, sie war in einem fernen Land gewesen und hatte als Gejagte, etwas zu verbergen gesucht. Da waren Hände, die nach ihr griffen, , da war ein Wappen mit 2 Schwertern und einer Rose, da war ein Gesicht. Das Gesicht war das Eindrücklichste an diesem Traum. Es war ein männliches Gesicht und es kam näher und näher, bis sich ihre Lippen berührten und sie ein Gefühl durchströmte, das sie am
ehesten noch hätte vergleichen können mit einem Ziehen in ihrer Herzgegend, einem Pulsieren, das jede Zelle ihres Körpers umfasst - und dann war da wieder dieser Schnitt. Dunkel erinnerte sich an die Hohen Wesen in den Hallen von Morias. Ein gütiges Gesicht war dabei gewesen, das sie kannte, dem sie sich verbunden fühlte, über Zeiten und Räume hinweg. Es war das Gesicht Anthors und ein Gefühl wie zu einem Vater hatte sie durchströmt. Und da war Firrin, der Zauberer. Auch ihn kannte sie aus mehreren Träumen und einem inneren Impuls folgend, hatte sie ihn mitgenommen nach Ynys Witrin. In diesen Hallen schienen verschiedene Träume oder Leben, wie sie ihre Träume nannte, zu verschmelzen, Figuren aus verschiedenen Träumen sich zu begegnen. Sie hatte sich zu schwach und zu verwirrt gefühlt, in den Hallen von Morias zu verweilen und der Ruf der Schwesternschaft war zwingend gewesen. Offensichtlich brauchte ihr Bewusstsein Ruhe, Ruhe um sich zu sammeln, um neue Kraft zu tanken und dafür war Ynys Witrin ein wundervoller Ort. Die Insel war wie eine Heimat für sie und doch auch nur ein Raum auf einer langen Reise, an dem sie Ruhe fand. Ein Erlebensraum, von dem sich sternförmig die Wege ausbreiteten, die sie in ihren „Träumen wandelte“. Doch fühlte sie auch hier, dass es nicht ihr eigentliches Zuhause war, nur eine Möglichkeit zu erfahren, zu ordnen. Doch ihr wahres Zuhause war irgendwo in ihrem Herzen vergraben oder in den Sternen, oder in der Vereinigung mit der Seele dieses Mannes, dessen Berührung sie verfolgte bis hierher, auf die heilige Insel. Die Erinnerung an die Begegnung war so intensiv, dass sie sich unwillkürlich ans Herz fasste. Der Puls war lauter geworden, viel stärker. Es war, als ob doppelt so viel Energie durch ihr Herz strömte als zuvor und sich durch ihren ganzen Körper ausbreitete. Sie hatte das Gefühl, den Boden unter den Füssen zu verlieren und ihr Körper schien völlig mit der sie umgebenden Natur zu verschmelzen. Ihr Seelengewebe aber fand sich völlig befreit
im weiten Raum, eng verbunden mit seiner Seele, die ihrer so ähnlich war und doch die vollständige Ergänzung, wie 2 Versionen einer Melodie, deren eine zutiefst empfangend war, sich hingebend, und deren andere befruchtend war, stark, gütig, beschützend. Doch war es eine einzige Melodie, die sich ausdrückte durch sie, die sich steigerte, die den Rhythmus variierte und in unendlicher Schönheit in Raum und Zeit erklang. „ Lilian“, Firrins Stimme durchbrach dies himmlische Erleben und schon spürte sie sich wieder im Körper der alten Frau. Noch immer saß sie auf dem Brunnenrand und Firrin saß neben ihr. Seine Augen drückten Besorgnis aus und seine Frage kam unvermittelt:“ Was erinnerst du?“
„ Was meinst du?“ fragte Lilian. „Was erinnerst du von dem, was vor den Hallen von Morias war?“ - „Nicht viel“, sagte Lilian und in ihrer Stimme war ein tiefes Bedauern. „Das liegt daran, dass du durch den Tod gegangen bist“, erwiderte Firrin. „ Tod?“ Ein sanftes Lächeln glitt über das Gesicht der Alten. Sie wusste, dass menschliche Wesen an den Tod glaubten, im Sinne eines Endes des Lebens, doch von hier aus betrachtet, war es für sie nicht mehr als ein Abstreifen eines Traumes. Unverständlich schien ihr diese Aussage aus Firrins Mund. Er selbst war ihr auf die Insel gefolgt, so musste er um die Unsterblichkeit wissen. Mit prüfendem Blick erforschte sie seine Gedanken und plötzlich verstand sie. „ Du meinst, ich bin als Mensch gestorben?“ Firrin nickte. Lilian brauchte lange, um das Gesagte zu begreifen. Hier auf Ynys Witrin, schienen ihr nur die Schwestern real, die Vögel, die Bäume, die Quellen. Alles was sie auf ihren „Reisen“ erlebte, schienen ihr Träume zu sein, aus denen sie erwachte, sobald sie sich am Ufer des Sees fand. Nie hatte sie daran gedacht, dass sie in Fleisch und Blut leben könnte im Reich der menschlichen Wesen, als eine von ihnen. „Hast du mich als Mensch getroffen?“, fragte sie Firrin. „Ja“, antwortete er, „du hattest den Körper einer wunderschönen, jungen Frau. Ihr Name war Elara und du hast
ein Geheimnis beschützt und es in die Hände des Mannes gelegt, den du liebst.“ Lilian erschauderte und das Sehnen, das sie gespürt hatte, wurde noch stärker. „ Bitte erzähl mir, was du weißt“, bat Lilian. Und Firrin erzählte ihr alles, was er wusste. Er erzählte von den Zeiten Lemuriens, er erzählte Anthors und Xenons Geschichten und er erzählte ihr von Angus an Og, von der Vision, die er hatte, von der Reise und wie sie sich letztendlich begegneten auf dem Hügel im fernen Reich. Und langsam begann Lilian zu begreifen, dass all ihre Träume Realität waren, erfahrbar und erlebbar für viele und dass andere in diesen Träumen gefangen waren und glaubten, sie wären ihr ganzes Leben und dessen Ende der Tod. „Wie grausam“, dachte sie und wie wundervoll zugleich. Sie war erschüttert und dankbar gleichermaßen und bat Firrin sie alleine zulassen. Sie brauchte jetzt Zeit, Zeit für sich, Zeit zu verarbeiten und sich an all ihre Träume wieder zu erinnern. Sie musste sich jeder Einzelheit gewahr werden, das fühlte sie jetzt mit aller Deutlichkeit. Sie würde das Ritual des Kelches nützen und als lebendige Göttin das Spiegelbecken aufsuchen und die Erinnerung rufen. Und dieses Mal, das wusste sie, würde kein Schmerz, weder menschlich, noch göttlich sie davon abhalten, die Wahrheit zu erkennen.
Sie bedankte sich bei Firrin und fragte sich, ob er bleiben, oder die Insel verlassen würde. „ Ich werde gehen“, sagte Firrin, „denn noch ist meine Aufgabe nicht zu Ende. Ich werde alles tun, damit sich dein Schicksal erfüllt.“ Mit diesen Worten ging Firrin in Richtung des Sees und Lilian fühlte ein leichtes Bedauern, doch hatten ihr seine Worte auch Hoffnung gegeben. Sie richtete sich auf und mit hocherhobenen Händen ließ sie Kraft der Göttin in sich hineinfließen, bis sie eins mit ihr war. Die machtvolle Stimme der Göttin durchströmte sie:




„Ich bin, die ich bin, sein werde und war.
Ich bin ewig im Wandel,
und doch bin ich ewig dieselbe.
Ich lebe und sterbe,
ändere mich und bleibe stets gleich.
Ich bin die Eine und die Vielen
in der Zeit und außerhalb der Zeit.
Mein Herz ist eins
im Himmel und auf Erden.
Mein Wesen ist Liebe
und die Welt ist mein Spiegel.
Den Himmel hab ich verlassen,
um im Fleisch zu gebären das reine Herz.
Hört meine Stimme, meine Stimme ist überall.
Liebende sehen mein Gesicht.
Mein Mantel scheint in allen Farben
und das Ganze ist verborgen in jedem von uns.
Die Geschichte meiner Selbsterkenntnis
ist die Geschichte von allem was ist.
Tief, tief im Inneren bin ich,
ich sitze in der Mitte des Rades,
wie mein Geliebter auch
und von dort spreche ich zu euch,
zu den Teilen meines Selbst,
die den Weg gehen,
in der Illusion von Zeit und Raum.
Hört mich in der Stille,
hört mich wo immer ihr seid.
Ich bin die Rose und die Lilie,
die Tochter und der Stein.
Ich bin menschlich und göttlich
Für immer vereint."


Die Schwestern hatten den Ruf vernommen. Weithin war die Stimme der Göttin erklungen, weit über Ynys Witrin hinaus bis zu den Seelen der Menschen. Lilian
kniete jetzt am Brunnenrand der roten Quelle, die auch Blutsquelle genannt wurde, beugte sich weit über den Rand und tauchte beide Hände, die sich zu einem Kelch geformt hatten ins Wasser. Sie benetzte ihre Krone, ihre Augen, ihren Kehlkopf, das Herz, das Sonnengeflecht und die beiden unteren Energiezentren mit dem Wasser und führte dann mit einer langsamen Bewegung beide Hände zurück zum Herz. Ihre Augen waren geschlossen. Sie hatte ihren Blick nach innen, auf ihre Seele gerichtet. Oft hatte sie sich gefragt, ob sie denn überhaupt eine eigene Seele hätte. Sie fühlte sich manchmal wie ein leeres Gefäß, das mit Inhalten gefüllt wurde, den Bedürfnissen ihrer Umgebung gemäß. Jede Zeit und jeder Raum hatten eigene Gesetzmäßigkeiten und eigene Notwendigkeiten. Wie sie hier auf der Insel die lebendige Göttin repräsentierte, repräsentierte sie in ihren traumartigen Zuständen andere Rollen, andere Inhalte. Sie wusste nicht, was sie überhaupt Ich nennen könnte. Das Gefäß, die Inhalte? War sie der Kelch, durch den sich die göttliche Weiblichkeit in die Welt ergoss? War sie die Trägerin eines Prinzips, wie Xenon und Anthor es Firrin erzählt hatten? Die einzigen Momente, in denen sie ansatzweise so etwas wie ein Ich- Selbst gefühlt hatte, waren jene glückseligen Momente mit diesem Mann gewesen. In diesen Momenten hatte sie sich lebendig gefühlt, beseelt und ganz. Lange betrachtete sie das Symbol der beiden sich überlappenden Kreise, das auf der Innenseite des geöffneten Brunnendeckels prangten. Ein Symbol der Ewigkeit, der Verschmelzung von männlich und weiblich, von Bewusstem und Unbewusstem. Vielleicht war nun der Zeitpunkt tatsächlich gekommen diesem seltsamen Traum ein Ende zu bereiten, in dem sie Leben träumte, wie etwas von ihr
entfernt Seiendes, in dem sie in ständig wechselnden Rollen sich fand und doch keiner der Rollen ihr ganz entsprach. In all diesen Rollen hatte sie sich damit abgefunden, dass ihre Herkunft verschleiert war, ebenso wie ihr Name. Doch nun hatte sie das Gefühl, dass sie nur noch ein dünner Schleier von der Wirklichkeit ihres Selbst trennte. Sie würde sich nun ganz dem Sehnen hinwenden, jener einen Kraft, die an ihrem Herzen ansetzte und sie zog und sie würde diesem Sehnen an die Wurzel folgen. Die Tatsache, dass sie dieses Sehnen so stark fühlte, zeigte ihr, dass etwas in ihr um Erfüllung wusste. Anders war es nicht zu erklären, dass sich die gefühlte Abwesenheit dieser Erfüllung als schmerzliches Sehnen ausdrückte. Wenn dieses Sehnen nun symbolisch einen Fluss darstellte, so würde sie sie sich vom Fluss tragen lassen bis zum Meere hin und gleichzeitig würde sie dem Fluss bis zur Quelle folgen, aus der er entsprang. Denn so wie der Fluss seinen Ursprung hat in der Quelle, musste auch ihr Sehnen einen Ursprung haben und ebenso, wie der Fluss sich ins Meer ergießt, würde auch das Sehnen sie zur Erfüllung tragen. Das Sehnen war die Verbindung zwischen Anfang und Ende, zwischen ihrer Herkunft und ihrer Erfüllung, die einzige Kraft, die sie mit beiden verband. Und so beschloss Lilian, sich tiefer und tiefer auf das Sehnen ihres Herzens einzulassen, um letztendlich sich selbst in ihrer Ganzheit zu erfahren. Auf einmal begriff sie sich selbst als den Fluss, der Quelle und Meer miteinander verband. Als sie sich aufrichtete, sah sie die Schwestern, die sich schweigend um sie versammelt hatten.
„Es ist Zeit“, sagte Lilian, „mit dem Ritual zu beginnen“ . Die Schwestern malten ihr die Sonnenscheibe, repräsentiert durch einen Kreis, und darunterliegend die Mondsichel auf die Stirn. Lilian füllte den Kelch, den eine der Schwestern ihr reichte, mit dem Wasser der Blutsquelle und wie schon viele Male zuvor schritten sie die Eibenallee entlang, schweigend bis sie das
Heiligtum der weißen Quelle erreichten. Hier schöpfte Lilian auch vom Brunnen der weissen Quelle, sodass sich die Wasser im Kelch vereinigten und einen kurzen Moment lang, bevor sie das Heiligtum betraten,berührte ein Mondstrahl das Wasser. Im Inneren des steinernen Gewölbes hatten sie schon vor langer Zeit ein Becken angelegt, in dem sich das Wasser sammelte und die ruhige, vor Wind und Wetter geschützte Wasseroberfläche diente ihnen als Spiegel, in dem sie sowohl Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges sahen, sofern es einem höheren Wohle diente. Der Raum war von Fackeln erleuchtet und Lilian trat an den Rand des Spiegelbeckens und fokussierte ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Sehnen ihres Herzens. Die Schwestern, es waren 12 an der Zahl, hatten sich im Kreis um das Becken aufgestellt und reichten einander die Hände um den Schutzkreis zu schließen und den Raum für die Zeremonie aufzubereiten.
Lilian stand im Innern dieses Kreises und verband sich geistig mit dem Wasser, der Luft, dem Feuer und der Erde. Sie rief die Geister aller Himmelsrichtungen, die Geister von oben und von unten. Sie rief die Ahnen, die Sternenkinder, die Hüter der Zeit und des Raumes. Sie rief die Hüter der kosmischen Ordnung und sie rief zum Schluss das Nwyvre, jenes Element, das alles umhüllt und alles durchdringt. Sie rief die kosmische Bruder- und Schwesternschaft, sie rief den vereinigten Geist der Tiere und der Pflanzenwesen. Sie rief den Geist der Sonne und des Mondes. Doch mehr noch als alles andere rief sie das Sehnen ihrer Seele in Erscheinung zu treten und ihr klare Bilder zu zeigen vom Anfang und Ende des Flusses, der ihrem Herzen entsprang. Ruhig blickte sie auf die Oberfläche des Wassers und wartete auf die Bilder, die sich ihr sonst zeigten. Doch es geschah nichts. Nichts worauf sie wartete. Stattdessen begann sich die zuvor vollkommen unbewegte Wasseroberfläche vor ihren Augen zu drehen, schneller und immer schneller und in der Mitte entstand ein Strudel, ein
mächtiger Sog, der sie einzusaugen und zu verschlucken schien. Sie hatte das Gefühl mit atemberaubender Geschwindigkeit in diesen dunklen Schacht zu stürzen, der sich in der Mitte gebildet hatte, und noch im Fallen wurde sie sich der Leere gewahr, die sie urplötzlich umgab.

(c) Lile an Eden
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