Der Schutzengel

von Margarethe Schmuck

Es war einmal eine Familie, die wohnte in einem  wunderschönen Tal. Sie bestand aus Vater, Mutter und
zwei Söhnen. Der ältere der Söhne war ein stiller, arbeitsamer Bursche. Er half dem Vater bei der Arbeit,
von der die Familie lebte. Die Mutter führte den Haushalt. Sie war eine liebe, gute Frau, die immer für ihre Familie da war. Der jüngere Sohn war ein rechter Draufgänger und wollte immer hoch hinaus. Wenn er dem Vater und dem Bruder bei der Arbeit helfen sollte, maulte er immer und tat die Arbeit nur widerwillig. Er sagte, er verdiene ja nichts. Er wollte für alles bezahlt werden. Denn das Geld spielte bei ihm die Hauptrolle. Dies wußte auch ein zwielichtiger Mann aus der Umgebung. Dieser Mann war immer in unsaubere Geschäfte verwickelt. Er machte sich an den Burschen heran und schlug ihm ein Geschäft vor.
Der Bursch sollte für ihn einen Gamsbock wildern, den er ihm teuer bezahlte. So stieg der Bursch eines Nachts den Berg hinauf, um einen Gamsbock zu jagen. Er schmierte sich Ruß ins Gesicht, um von niemandem erkannt zu werden, für den Fall, daß jemand ihn sehen sollte.
Aber er hatte Glück und es ging alles gut. Als der Bursche nun viel Geld hatte, gab er es ganz groß aus. Als der Vater davon efuhr, nahm er sich den Sohn vor. „Wo hast du das viele Geld her?“ Der Sohn antwortete, das ginge ihn nichts an. Doch nach weiterem Drängen des Vaters erzählte er ihm die Wahrheit. „Das kannst du nicht tun, das dulde ich nicht. Wenn ich noch einmal so was höre, hast du bei uns nichts mehr verloren,“ sagte der Vater. Auch die Mutter bat den Sohn, die dunklen Geschäfte zu lassen.
Der Sohn versprach es. Aber er hielt sich nicht daran. Denn als das Geld verbraucht war, und der Mann ihn
wieder um einen Gamsbock fragte, sagte er abermals zu. Diesmal wollte er ihm sogar einen noch höheren Preis zahlen. Also schlich sich der Bursche eines Nachts wieder aus dem Haus und ging dem Berge zu.
Er mußte diesmal ziemlich hoch hinauf. Es war gerade noch so hell, daß er den Gamsbock ausmachen konnte, der auf einmal in Schußweite vor ihm stand. Aber immer, wenn er glaubte, den Gamsbock im Visier zu haben, teilte sich der Weg, und der Gamsbock war verschwunden und tauchte völlig unvermutet an anderer Stelle wieder auf. So stieg der Bursch immer höher und höher. Er konnte kaum mehr etwas sehen, doch er war wild entschlossen, nicht ohne diesen kapitalen Gamsbock heim zu gehen. Schon glaubte er, jetzt oder nie, doch auf einmal war alles stockdunkel. Er stürzte und sah nur mehr schwarze Punkte vor seinen Augen. Er versuchte sich mit seinen Händen irgendwo festzuklammern, denn er hatte den Boden unter den Füssen verloren. Irgendwie fand er Halt am Wurzelwerk und er hatte fürchterliche Angst. Er
konnte sich kaum bewegen. Dunkel sah er Felsmassen an ihm vorbei rasen. Er war wieder gestürzt und hing nun in einer steilen Felswand. Der Bursch bereute, daß er die Bitte der Eltern nicht befolgt hatte. Er betete zu Gott, er sollte ihm einen Schutzengel schicken, denn er sah keinen Ausweg. Der Bursch versprach, ein guter Sohn zu werden und keine dunklen Geschäfte mehr zu machen. So hing er, vor Angst schlotternd, am Felsen. Auf einmal wurde es ganz hell und ein liebliches Fräulein kniete über ihm. Es reichte ihm seine Hand, zog ihn in Sicherheit und führte ihn aus der Felswand hinaus. Als der Bursche den sicheren Boden unter den Füßen spürte, war das Fräulein verschwunden. Der Bursch kniete nieder, dankte Gott für die Rettung und dachte, er wolle den Eltern nichts sagen. Als er daheim ankam, schlich er gleich auf sein Zimmer. Niemand hörte ihn, denn es war noch vor Tagesanbruch. Seine Eltern und der Bruder schliefen noch. Als die Mutter am Morgen das Frühstück auf den Tisch stellte und alle zum Essen kamen, kam auch er herunter. Da schauten ihn die Eltern und der Bruder ganz entgeistert an. Was war geschehen? Der jüngere Sohn hatte über Nacht schneeweisse Haare bekommen. Der Bursch sagte nichts. Aber von dieser Stunde an war er ein ganz anderer Mensch.